«Ich möchte dir gern beim Duschen zuschauen. Du trocknest dich nicht ab. Du setzt dich auf meinen Schoss. Dann trockne ich dich ab. Ich möchte deinen Körper streicheln. Dabei möchte ich dich Lydia nennen.» Als Bernhard, ein junger Mann, diese Anweisungen in einem Brief an eine junge Prostituierte findet, ändert sich das Leben einer Familie von Grund auf. Denn der Verfasser dieses Textes ist Bernhards Vater und Lydia, das ist der Name von Bernhards Schwester.
Stillleben entwirft mit wenigen Strichen und Hinweisen ein Familienuniversum, zeichnet die Geschichte von vier Menschen, die während langer Jahre mit sich und umeinander gerungen haben. Diese fragile Gemeinschaft implodiert beinah lautlos durch die Ahnung eines pädophilen Übergriffs. Eine Leidensgeschichte, die bisher als Alkoholkrankheit getarnt war, wird kenntlich als sexuelle Obsession. Nicht wertend und moralisierend stellt Stillleben die Frage nach dem Beginn von Schuld, thematisiert die Teilhabe einzelner Familienmitglieder und übernimmt zugleich ihre Anwaltschaft. Der 1976 in Österreich geborene Filmemacher Sebastian Meise beschreibt in seinem beeindruckenden Spielfilmerstling den Moment der Erschütterung, zeigt die Risse, die sich im Familiengefüge auftun, den Beginn des Nachbebens. Das Projekt Stillleben, ebenso wie der Dokumentarfilm Outing, gehen zurück auf das Berliner Hilfsprogramm Kein Täter werden, das pädophil veranlagten Menschen helfen will, ihre Neigungen im Griff zu behalten.